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literarische frottagen



"ähnlich wie ein Restaurator ist (der Künstler) verfahren, der ein ihm anvertrautes Bild als eine Übermalung eines mit Röntgenstrahlen sichtbar gemachten erkennt oder der unter einem abblätternden Fresko ein oberflächlich getilgtes vor sich hat, als das ältere vielleicht wertvoller. und könnte nicht manches, was zweierlei Schichten angehört zu haben scheint, ein Seite-an-Seite gewesen sein, ..."
(Julian Schutting)


literarische frottagen

T.K., "durch die wüste", Bleistift auf Briefmarkenpapier, 186 x 148 cm.


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T.K., "auroren blut", Bleistift auf
Briefmarkenpapier, 184 x 148 cm.

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T.K., "durch die wüste", Bleistift auf
Briefmarkenpapier, 186 x 148 cm.

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Ernst Herbeck, "Alexander", Bleistift auf
Briefmarkenpapier, 212 x 148 cm.

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... ein Schriftbild ohne Schrift – waagrecht über eine große, unregelmäßig ausufernde Papierseite gezogene Bleistiftlinien, die zwar gerade, nämlich mit Hilfe einer Wasserwaage, gezogen sind, aber unterschiedliche Strichstärken, Hell-Dunkel-Modulationen und Abstände zueinander aufweisen. Etwas hat sich hier in aller Gleichförmigkeit zusammengeschoben und verdichtet; unter der Hand, die den Bleistift tausende Male von einem zum anderen Rand des Papiers geführt hat, ist eine Landkarte entstanden, die zugleich die Landschaft ist. In diese eingesickert oder aus ihr herausgetreten sind mäandernde Flüsse, graue und lichtere Wolkenformationen, unterschwellig sich abzeichnende Marianen-Gräben. Auf deren Grund liegt ein Buch, dessen sämtliche Seiten hier auf einmal aufgeschlagen sind und dessen Text/Schrift in eine andere Dimension überführt worden ist.

... Mit jedem gezogenen Bleistiftstrich zählt er (zwar nicht die Zeilen), doch jedes einzelne Wort und Satzzeichen, das im Gedichtband abgedruckt ist. Somit ist alles, was dort der Fall ist –  jedes Wort, jeder Punkt, Beistrich, Gedankenstrich des Buchs – auf der großen grauen Landkarte verzeichnet, und hat jeweils eine horizontale Spur / einen materiellen Abrieb auf dem Papier hinterlassen. Auch letzteres Trägermaterial hat eine Geschichte beziehungsweise einige Umschichtungen erfahren. Es wurde aus mehreren, zuvor durch Wässerung vom Leim befreiten Bögen von Briefmarkenpapier zum vorliegenden Format zusammengeklittert. Die Verläufe der Klebspuren und der überarbeiteten Risse, die Aufdoppelungen und Wellungen des Papiers haben sich als Zufallsgegebenheiten in die exakte Strich-Zählung ebenso eingetragen, wie die darunterliegende Wand, die selbst schon einem Palimpsest gleicht und deren amorphe Strukturen das horizontale Linienfeld durchwachsen.

... Das Zurücknehmen der Wörter in den literarischen Frottagen, ihr langwieriges und durchaus anstrengendes physisches Ausstreichen, ist nicht als Negation zu verstehen, darin enthalten ist vielmehr eine Geste der Öffnung wie der Berührung. Etwa so wie man kleine Wirbel und zottelige Stellen im Fell einer Katze ausstreicht, bis sie aufspringt und ihrer Wege geht. Und am nächsten Morgen kommt der Künstler wieder ins Atelier und streicht aufs Neue 10 mal, 20 mal oder 50 mal Wirbel aus. Die Katze bleibt dieselbe, und auch die Wirbel, wie jeder weiß. Doch der, der die Geste viele Male, zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Verfassung gemacht hat, hat sich verändert, hat etwas von sich auf dem Fell / dem Papier der Frottage eingetragen. Auch eigene Gedichtbände hat Toni Kleinlercher auf diese Weise „leergestrichen“, hat deren Wörter und Satzzeichen bis auf Null heruntergezählt, wie man es beim Start einer Rakete tut. Mit dem Verfahren der Frottagen erschließt er den Dichtungen eine neue Qualität und Dimension – die des Nicht-mehr-Geschriebenen. Darin ist alles enthalten und auf nichts mehr zu verweisen.

(Auszüge aus Gisela Steinlechners Essay zu "private viewing 10")

 


 

© 2021 Toni Kleinlercher