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private viewing
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26.06.2021
christian steinbacher
vorgefundener durchblick
Christian Steinbacher, Installationsansicht, Foto © T.K.
Christian Steinbacher, vorgefundener Durchblick, Foto © O.Saxinger
„Das Erzählte ist
hier offenbar weniger erfunden denn vorgefunden, der Erzähler mehr Entdecker als
Erfinder von Geschichte(n)“. Florian Huber, „Fragmente einer Sprache moderner
Prosa“, in: Florian Neuner,
Die Rampe:
Porträt Christian Steinbacher, Linz 2016.
Toni Kleinlercher
literarische frottagen
Toni
Kleinlercher, literarische Frottagen, Herbeck,"Alexander", Foto © T.K.
"ähnlich wie ein Restaurator ist (der Künstler) verfahren, der
ein ihm anvertrautes Bild als eine Übermalung eines
mit Röntgenstrahlen sichtbar
gemachten erkennt oder der unter einem abblätternden Fresko ein oberflächlich
getilgtes
vor sich hat, als das ältere vielleicht wertvoller. und könnte nicht
manches, was zweierlei Schichten angehört zu haben scheint, ein Seite-an-Seite
gewesen sein, ..." (Julian Schutting)
Essay zur Ausstellung PRIVATE VIEWING 10 von Gisela Steinlechner
mind the gap
Auf der einen
Wandseite Wörter, die einem sofort ins Auge springen. Ihre Gegenwart im
Raum leuchtet unmittelbar ein, auch wenn sich kein zusammenhängender
oder verborgener Sinn aus den 5 Schrifttafeln herauslesen lässt, die
wie Bilder einer Ausstellung
nebeneinander gehängt wurden. Conférencier / rudern / die Sonne
betref-fend / Nerven-zentrum / weiße Ameise (in welcher Reihenfolge,
das wird sich weisen / erwiesen haben). Ihr Einleuchtendes verdanken
die Schriftbilder zu einem gewissen (und mit Sicherheit unbestimmten)
Grad auch ihrem Herstellungsverfahren: Die zugrundeliegenden
Textfundstücke wurden regelrecht durchleuchtet, sodass auch die
Eintragungen auf der Rückseite des Papiers, auf dem sie ursprünglich
gedruckt waren, sich wie ein Schatten abzeichnen. Das Verfahren, das
Christian Steinbacher hier anwendet, zeitigt sonnenbeschienene Wörter
(ein unbeabsichtigtes Surplus),
deren Licht wie auf alten Agfacolor-Fotografien ein wenig zu stark und
zugleich schon vergilbt scheint. Zu diesem Eindruck trägt auch das
typografische Erscheinungsbild seinen Teil bei, das ein wenig aus der
Zeit gefallen ist. Alles in allem leuchtende Unwägbarkeiten.
Auf der anderen,
gegenüberliegenden Wand ein Schriftbild ohne Schrift – waagrecht über
eine große, unregelmäßig ausufernde Papierseite gezogene
Bleistiftlinien, die zwar gerade, nämlich mit Hilfe einer Wasserwaage,
gezogen sind, aber unterschiedliche Strichstärken,
Hell-Dunkel-Modulationen und Abstände zueinander aufweisen. Etwas hat
sich hier in aller Gleichförmigkeit zusammengeschoben und verdichtet;
unter der Hand, die den Bleistift tausende Male von einem zum anderen
Rand des Papiers geführt hat, ist eine Landkarte entstanden, die
zugleich die Landschaft ist. In diese eingesickert oder aus ihr
herausgetreten sind mäandernde Flüsse, graue und lichtere
Wolkenformationen, unterschwellig sich abzeichnende Marianen-Gräben.
Auf deren Grund liegt ein Buch, dessen sämtliche Seiten hier auf einmal
aufgeschlagen sind und dessen Text/Schrift in eine andere Dimension
überführt worden ist.
„Der Bleistift zählt die Zeilen / eurer Lieder“, hat Ernst Herbeck einmal geschrieben (Der Hase!!!!,
128), gerade so, als hätte der Autor schon vor 50 Jahren dieses
Schriftbild vor sich gesehen und mit einem seiner lakonischen
Kommentare bedacht. Herbecks 1971 im Residenz Verlag erschienenen
Gedichtband Alexander hat
Toni Kleinlercher zum Ausgang seiner literarischen Frottage genommen.
Mit jedem gezogenen Bleistiftstrich zählt er (zwar nicht die Zeilen),
doch jedes einzelne Wort und Satzzeichen, das im Gedichtband abgedruckt
ist. Somit ist alles, was dort der Fall ist – jedes Wort, jeder
Punkt, Beistrich, Gedankenstrich des Buchs – auf der großen grauen
Landkarte verzeichnet, und hat jeweils eine horizontale Spur / einen
materiellen Abrieb auf dem Papier hinterlassen. Auch letzteres
Trägermaterial hat eine Geschichte beziehungsweise einige
Umschichtungen erfahren. Es wurde aus mehreren, zuvor durch Wässerung
vom Leim befreiten Bögen von Briefmarkenpapier zum vorliegenden Format
zusammengeklittert. Die Verläufe der Klebspuren und der überarbeiteten
Risse, die Aufdoppelungen und Wellungen des Papiers haben sich als
Zufallsgegebenheiten in die exakte Strich-Zählung ebenso eingetragen,
wie die darunterliegende Wand, die selbst schon einem Palimpsest
gleicht und deren amorphe Strukturen das horizontale Linienfeld
durchwachsen.
Die offenliegende Wand des Ateliers spielt in so gut wie allen private viewing-Projekten
eine tragende Rolle, hier hat sie von unten (aus den materialisierten
Schichten vergangener Zeiten) herauf an der Frottage mitgeschrieben,
während die Bleistiftlinien üer Tage und Wochen vom oberen Rand herab
auf das Blatt regneten. Das ist wohl als Referenz auf die in unserer
Kultur bestimmende Schreib- und Leserichtung zu verstehen, dennoch ist
es in formaler Hinsicht bemerkenswert: Die Verdichtung und Ansammlung
geht hier eben nicht von einer Basis aus, einem wie immer gearteten
Grund, von dem aus Strich fü Strich aufeinander geschichtet würde,
sondern sie wächst von oben nach unten wie ein „Eiszapfen unter der
Dachrinne“. Zu einem solchen bemerkte Ernst Herbeck in einem der
Gedichte des Alexander-Bandes:
„Es ist ein schönes Bild. Dies zu sehen. / wird nicht beachtet. Ist in
Pflege.“ (95) Er, der Zeit seines Erwachsenenlebens in der Psychiatrie
verbringen musste, hatte ein Auge für die Schönheit des Unbeachteten
und Beiläufigen, für das, was sich der Verwertung entzieht, was eines
Tages da ist und am nächsten schon nicht mehr. Seine auf Aufforderung
geschriebenen Texte gab der Autor nach Fertigstellung umstandslos aus
der Hand, als wäre er hier nicht weiter zuständig. Irgendwann wurde
daraus eine Auswahl und ein Buch gemacht, etwas Handfestes, als
Literatur Benennbares, das Toni Kleinlercher nun mit dem Verfahren der
Frottage erneut in einen anderen Aggregatzustand überführt hat. Der
Eiszapfen wird wieder zu Wasser, ein Regen von Strichen, der
irgendwann, mit dem letzten Wort / Satzzeichen des Buchs, einfach
aufhört.
Das
Zurücknehmen der Wörter in den literarischen Frottagen, ihr
langwieriges und durchaus anstrengendes physisches Ausstreichen, ist
nicht als Negation zu verstehen, darin enthalten ist vielmehr eine
Geste der Öffnung wie der Berührung. Etwa so wie man kleine Wirbel und
zottelige Stellen im Fell einer Katze ausstreicht, bis sie aufspringt
und ihrer Wege geht. Und am nächsten Morgen kommt der Künstler wieder
ins Atelier und streicht aufs Neue 10 mal, 20 mal oder 50 mal Wirbel
aus. Die Katze bleibt dieselbe, und auch die Wirbel, wie jeder weiß.
Doch der, der die Geste viele Male, zu unterschiedlichen Zeiten und in
unterschiedlicher Verfassung gemacht hat, hat sich verändert, hat etwas
von sich auf dem Fell / dem Papier der Frottage eingetragen. Auch
eigene Gedichtbände hat Toni Kleinlercher auf diese Weise
„leergestrichen“, hat deren Wörter und Satzzeichen bis auf Null
heruntergezählt, wie man es beim Start einer Rakete tut. Mit dem
Verfahren der Frottagen erschließt er den Dichtungen eine neue Qualität
und Dimension – die des Nicht-mehr-Geschriebenen. Darin ist alles enthalten und auf nichts mehr zu verweisen.
Drüben, auf der
Sonnseite des Raums, scheinen die Dinge auf den ersten Blick einfacher
zu sein, hier kann man gar nicht anders als zu lesen. Das Vorgefundene,
das im Titel des Beitrags Christian Steinbachers angesprochen ist,
bezieht sich auf eine Gebrauchstextform, die wir alle kennen: das
Kreuzworträtsel. Aus solchen in Zeitungen und Zeitschriften
abgedruckten Kreuzworträtseln hat der Künstler beginnend in den 1990er
Jahren Kästchen mit den Anweisungen für die zu findenden Wörter
ausgeschnitten und gesammelt; daraus hervorgegangen sind mehrere
Buchprojekte, in denen diese Sprachfundstücke Anlass und Material für
visuelle und sprachexperimentelle Konfigurationen waren. In der starken
Vergrößerung und Durchleuchtung, in der sie hier zur Ansicht kommen,
tritt das Handwerkliche dieser Materialsammlung deutlich hervor, der
Autor hat die Kästchen immer samt Rahmen ausgeschnitten, aber eben
nicht ganz exakt, manche Ränder sind ausgefranst oder ausgedünnt, die
Schere und die Hand, die sie geführt hat, sind mit im Bild.
Kreuzworträtsel
sind alles andere als poesieverdächtig, doch wer Christian Steinbachers
spielerische und stets form- und materialbewusst agierende poetische
Arbeit kennt, wird hier einige Anknüpfungspunkte finden: Es handelt
sich um einen Text mit offenem Ausgang (man kann bekanntlich an der
Lösung scheitern oder die Lust verlieren); eigentlich ist es eine
Spielanleitung fü einen Text, der wiederum keiner übergreifenden
syntaktischen oder semantischen Logik folgt. Sinneinheiten gibt es hier
nur auf der Binnenebene und es gibt viele Leerstellen, die die „Leser“
eines solchen Rätsels zu dessen potentiellen Mitautoren machen. Sie
sind dazu angehalten, Wörter anhand von Buchstabenfolgen als die
„richtigen“ ausfindig zu machen, zu diesem Zweck müssen sie
kombinieren, Buchstaben zählen, Wörter ausprobieren. Zudem gibt es hier
keine vorgegebene lineare Leserichtung, man probiert und buchstabiert
kreuz und quer, wie es eben kommt, der Text gleicht letztlich mehr
einem Parcours oder einer Konstellation. Alle diese Aspekte wurden in
den sprachbewussten und sprachexperimentellen modernen
Literaturrichtungen auf die eine oder andere Art aufgegriffen und
thematisiert.
Christian Steinbacher
treibt hier die experimentelle Durchleuchtung des Sprachmaterials noch
weiter und im wörtlichen Sinn voran. Das eingebrachte Licht bringt die
Rückseite des Papiers mit ins Spiel (so wie Kleinlerchers Frottagen die
darunterliegende Wand), aber eben nicht nur; auch das Papier selbst
offenbart seine Gemachtheit und geklitterte Materialität, es erinnert an
eine (inzwischen aus der Mode gekommene) Raufasertapete. Die
Stofflichkeit des analogen Mediums Papier tritt vor den Vorhang und
dort befinden sich üblicherweise schon die Buchstaben. Auch deren
Beschaffenheit wird auf ungewohnte Weise einsehbar, wobei sie der
Durchleuchtung durchaus etwas Widerspenstiges entgegensetzen, sie
wirken – wenn auch an den Rädern ein wenig ausgefranst – äußerst
kompakt und gegenständlich, fast erhaben wie Brailleschrift. Nur der
Abstand zwischen den Buchstaben erscheint durch die Vergrößerung etwas
gelockert, so als wäre den Wörtern Luft zugefächelt worden. All das
dient der Öffnung gewohnter Zusammenhänge und Automatismen, wie sie in
der alltäglichen Kommunikation und beim Vorgang des Lesens
allgegenwärtig und in eben diesem Maß „vergessen“ sind. Ludwig
Wittgenstein hat sich in den Philosophischen Untersuchungen
ausfürlich mit solchen Mikroprozessen beschätigt, die im Hintergrund
des Sprechens und Verstehens ständig mitlaufen. In ihrem Gedicht Eindrücke aus dem Theater lenkt auch Wisƚawa
Szymborska den Blick auf die Maschinerie im Hintergrund, auf das, was
der 6. Aufzug im Theater zu Tage bringt: „Wahrhaft erhaben ist erst das
Fallen des Vorhangs / und was man danach durch den unteren Spalt zu
sehen bekommt: / da hebt eine Hand die Blume eilig vom Boden, / dort
eine andere das liegengelassene Schwert.“ (77)
Kinder lesen
anfänglich noch Buchstabe für Buchstabe: r – u – d – e – r – n , N – e
– r – v – e – n – z – e – n – t – r – u – m , und auch wenn das Wort
richtig entziffert und die Laute alle ausgesprochen sind, gibt es da
manchmal noch einen Moment der Verzögerung, bevor das Gelesene in der
Sprachabteilung des Gehirns in die entsprechende Schublade einrastet.
Und mit diesem Moment, mit den Geschehnissen hinter dem
Vorhangspalt, beschäftigt sich Christian Steinbacher in den
Schriftbildern durchaus listig und lustvoll. Mind the gap
wird einem im Londoner oder New Yorker Underground immer wieder
nachgerufen, man kann dies auch anders verstehen, nicht als Warnung
sondern als Aufforderung, sich einmal auf die Lücken und Spalten
einzulassen, auch im Sinne einer Erweiterung oder produktiven
Verrückung der Wahrnehmung. „a + b leuchten im Klee. / Blumen am Rande des Feldes.“, weiß etwa Ernst Herbeck über Die Sprache zu berichten (39). In der Folge liest man über eine Formulierung wie weiße Ameise
nicht mehr ohne weiteres hinweg, sondern spürt richtiggehend, dass es
sich hier um eine gegen das Fell gestrichene Wortfolge handelt. Weiß
ist die Ameise unserem Verständnis nach sowieso nicht, außerdem kommen
die beiden Wörter hier in tiefschwarzen, fast pelzigen Buchstaben
daher, was bei der Ameise noch angehen wüde, aber beim Wort weiß
... Es kribbelt förmlich, hinzu kommen die fahrigen dunklen Spuren, die
sich von der Rückseite des Papiers her hier eingefunden haben. Als wäre
die im Wort angesprochene, nach sprachlicher Übereinkunft eben nur gemeinte Ameise, hier doch irgendwo anwesend und gerade vorbeigekrabbelt. Und so weiter.
Während in
den Frottagen Toni Kleinlerchers die Signifkanten buchstäblich zum
Strich eingeebnet werden, und sich ihrerseits durch diesen Strich auf
dem Papier vertreten finden, so geht der Prozess bei Christian
Steinbacher in die andere Richtung. Das, was man üblicherweise beim
Lesen übersieht, ja überliest
– die Signifikanten – tritt in seiner Materialität, seiner Gestaltung
und Gestalt hervor, es konkretisiert sich, fraternisiert dabei
weiterhin mit der Bedeutungsebene der Wörter, aber eben in durchaus
ambivalenter, manchmal herzlicher, dann wieder eifersüchtig
konkurrierender Geschwisterbeziehung. Zugleich wird auch sichtbar, was
sich im Rücken der Wörter abspielt, das Meiste davon nicht
identifizierbar: Fragmente von Schrift oder Graphik, die dem Zufall und
dem jeweiligen Medium geschuldet, hier einen Moment der
Gleichzeitigkeit einbringen. Die fünf Schrifttafeln sind ebenfalls
gleichzeitig im Raum anwesend, jedes Wortfundstück mit seinem eigenen
Feld und Leuchten, seiner je eigenen Hintergrundgeschichte. Was zwischen ihnen passiert, wer möchte oder könnte das so genau wissen.
Die Dinge sind in Schwebe, die Wörter frei gestellt.
Eine Beobachtung, wie man sie auch auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes machen kann.
Ernst Herbeck: Alexander. Ausgewählte Texte 1961 – 1981. Residenz: Salzburg und Wien 1982.
Ernst Herbeck: Der Hase!!!! Ausgewählte Texte und Zeichnungen: Salzburg und Wien 2020.
Wisƚawa Szymborska: Hundert Freunde. Gedichte. Hg. und übertragen von Carl Dedecius, Ffm.1996.
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